ZUM ENTDECKEN SCROLLEN
Das Erbe der Libelle
„Naaa, nimm nicht das!“
Die Stimme quäkte mich so unvermittelt von der Seite an, dass ich zusammenschrak. Es war die alte Dame, die uns von ihrem Klappstuhl aus aufmerksam musterte. Ihre Augen waren riesig und standen ein bisschen vor.
Ihr kleiner, krummer Körper steckte in einem Kaftan mit Rautenmuster. Der Stoff fiel unförmig an ihr herab, als sie aufstand und mich zu sich heranwinkte. Kurz darauf verschwand sie bis zur Hüfte in einer der Kisten hinter dem Verkaufstresen.
Mia und ich tauschten einen verdatterten Blick.
„Es muss doch … hatte ich doch … Wo ist dummes Ding?“
Sie hatte einen starken Akzent. Vermutlich osteuropäisch, sicher war ich jedoch mir nicht. Ihr weißes, dünnes Haar war zu einem Dutt gebunden, der lustig hinter dem Tresen wippte.
„Aaaah. Da. Das ist, was du brauchst!“
Verwundert betrachtete ich die Kette, die von ihren arthritisgeplagten Fingern herunter baumelte. Ich war mir zwar sicher, dass ich sie nicht brauchte, aber schön war sie trotzdem. Der Anhänger bestand in der Mitte aus einem dunklen Stein. Die silberne Fassung enthielt zarte Muster, Blumenranken und Sterne. Vorsichtig nahm ich der alten Dame die Kette aus der Hand und drehte den Anhänger um. Auf der Rückseite war eine Inschrift eingraviert, die sich mit dem bloßen Auge kaum entziffern ließ.
„Können Sie lesen, was da steht?“
„Lesen?“, echote die Verkäuferin schrill und schnalzte mit der Zunge. „Ist zu klein zum Lesen. Aber ich kenne Worte.“ Sie tippte sich an die Schläfe, wie um zu sagen: Alles hier gespeichert.
Ich schmunzelte. „Und was steht da?“
„Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo.” Ihre Stimme verfiel in einen Singsang, der es mir zuerst schwer machte zu erkennen, dass sie Vergils Äneis zitiert hatte.
„Das ist Latein.“
„Was heißt es denn?“, fragte Mia, die das Glück hatte, nie den Stowasser in der Hand gehalten zu haben.
„Wenn ich die himmlischen Wesen nicht bewege, rufe ich Acheron zu Hilfe“, übersetzte ich wörtlich.
Mia hob eine Augenbraue. „Und jetzt noch mal für Nicht-Historikerinnen.“
„Wenn ich Himmel nicht beugen kann, werde ich Hölle in Bewegung setzen“, entgegnete die Alte.
„Frei übersetzt. Acheron ist eigentlich nur einer der Flüsse der griechischen Unterwelt. Und superos heißt nicht Himmel, sondern ...“ Ich brach ab, da Mia mit voller Absicht herzhaft gähnte. „Okay, vergiss es.“
„Ich kenne den Spruch von Pinterest“, sagte Mia.
Das Lachen der Alten klang nach Reibeisen. „Das ist, was du suchst. Rache, eh? An untreuem Mistkerl, der hat geheiratet andere Frau?“
Mia verschluckte sich an ihrem Eis und hustete so heftig, dass es ihr fast aus der Hand gefallen wäre.
„Wie bitte?“, hauchte ich. „Woher wissen Sie das?“
Ich hatte mit niemandem darüber gesprochen, abgesehen von Mia. Nicht einmal Becks kannte die ganze traurige Geschichte über Christians Doppelleben und meine grenzenlose Naivität. Meine Wangen brannten vor Scham, und mein Herz zog sich wie im Todeskampf zusammen.
Die Alte sah ein wenig ertappt aus. Doch sie überspielte es mit einem weiteren Lachen und winkte ab. „Ich sehe einfach. Männer sind alle gleich.“
Wenig überzeugt schaute ich von ihr zu der Kette in meiner Hand. Mit einem Mal war mir, als würde der Stein mich anstarren. „Ich glaube nicht, dass ich sie mir leisten kann“, sagte ich und überlegte fieberhaft, wie ich möglichst höflich das Weite suchen konnte.
„Ist nur dreiundzwanzig fünfzig“, empörte sie sich, ehe sie die Augen rollte und theatralisch seufzte. „Gut, gut, mache ich zwanzig Euro.“
„Ich brauche wirklich keine ...“
„Fünfzehn. Letzte Wort. Ist Erbstück!“
Ich gab auf. Geschlagen drückte ich Mia mein Eis in die Hand und kramte das Portemonnaie hervor. „Fünfzehn Euro. Bitte sehr.“
Die Alte grapschte nach dem Geld und strich beinahe liebevoll über die Scheine. „Viel Glück, Mädchen.“
„Viel Glück, Mädchen.“
— Auszug aus kapitel 1
Ein folgenschwerer Kauf auf dem Antiquitätenmarkt stellt Emilias geordnetes Leben auf den Kopf. Ohne es zu ahnen, wird sie in einen uralten Kampf zwischen den Mächten der Unterwelt verwickelt. An der Seite des sarkastischen Gottes Acheron macht sie sich daran, die drohende Apokalypse zu verhindern. Doch kann Sie ihm trauen?