Kapitel 1
„In die Stadt geht’s geradeaus“, erinnerte ich Mia, die am Steuer saß und heimtückisch grinste.
„Ach wirklich? Da habe ich mich wohl verfahren.
“Ich runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Dieser Einkaufsbummel war nicht meine Idee gewesen. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich meinen Geburtstag im Bett verbracht und mir die Augen aus dem Kopf geheult. So wie es sich gehörte, wenn man sich frisch von seinem Partner getrennt hatte.
Meine Schwester verfolgte jedoch andere Pläne. Frühmorgens hatte sie mich aus dem Bett geklingelt und mir im besten Gouvernantenton verboten, in Selbstmitleid zu versinken. Deshalb saß ich nun auf dem Beifahrersitz ihres klinisch reinen VW Passat und umklammerte meinen Thermobecher mit Kaffee wie ein Rettungsseil.
Während wir auf den Autobahnzubringer fuhren, erzählte Mia mir von ihren Kolleginnen im Kindergarten und bekam eine nahtlose Überleitung zu ihrer Einkaufswunschliste hin. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, starrte auf die vorbeifliegende Landschaft und versuchte, nicht an Christian zu denken. Oder an das unselige Gespräch, das unsere Beziehung endgültig beendet hatte. Ich war mir sicher, nie zuvor so viele Lügen in so kurzer Zeit gehört zu haben.
„Mach kein langes Gesicht, Emmi. Ich weiß, die Situation ist beschissen. Aber du solltest froh sein, dass du ihn los bist.“
Mia löste ihre Hand vom Schaltknüppel, um mir die Finger zu tätscheln. Ich zwang mich zu einem Lächeln. Natürlich hatte sie recht. Doch noch war es zu früh, um irgendetwas anderes zu fühlen als Scham und Erniedrigung.
„Wie komme ich nur zu einer so weisen kleinen Schwester?“
Mia grinste selbstzufrieden und erinnerte mich dabei sehr an unsere Mutter.
„Keine Ahnung. Verdient hast du sie jedenfalls nicht.“
Diesmal war mein Lachen echt. „Okay, du Kröte. Verrätst du mir jetzt endlich, wohin wir fahren? Das Einkaufszentrum ist es nämlich mit Sicherheit nicht.“
Mia setzte den Blinker und überholte einen Lkw. „Du wolltest doch das Wochenende am Meer verbringen, oder nicht? Das war der Plan. Nur fährst du nicht mit deinem wertlosen Ex mit dem winzigen Schwanz nach Holland, sondern mit meiner Wenigkeit.“
Für einen Moment war ich so verdattert, dass mir kein Wort über die Lippen kam. Dann quietschte ich sehr erwachsen los und vollführte einen kleinen Freudentanz im Sitzen, wobei der Kaffee fast übergeschwappt wäre.
„Vorsicht! Meine Polster!“, warnte Mia, die die einzige Frau unter der Sonne war, die derart penibel auf die Sauberkeit ihres Autos achtete. Ich ignorierte ihre Warnung und drückte ihr einen überschwänglichen Schmatzer auf die Wange.
„Wir bleiben bis Dienstag. Becks kommt morgen nach. Strand, Sonne, Einkaufsbummel, Cocktails. Das ist der Plan. Bei der Reihenfolge bin ich flexibel.“
Tränen stiegen in mir auf. Becks hatte in der Kanzlei alle Hände voll zu tun. Dass sie sich trotzdem die Zeit für ein verlängertes Wochenende am Meer nahm – noch dazu mit einem Wrack wie mir – rührte mich.
„Ich habe gar nichts eingepackt.“
„Aber ich.“ Mia kicherte. „Als du im Bad warst. Zahnbürste und Zahnpasta habe ich von zu Hause mitgenommen.“
„Du Füchslein. Mich so klammheimlich zu entführen.“
„Wird Zeit, dass es jemand tut. Christian hat ja nur davon geredet, aber nie etwas umgesetzt.“
Das hier war vollkommen verrückt. Und großartig. In den letzten Jahren hatte ich wenig spontan unternommen. Überhaupt hatte ich kaum etwas nur für mich getan.
Ich schuldete mir eine Entschuldigung. Und einen Neuanfang.
Flohmärkte hatten mich schon immer magisch angezogen. Meine Begeisterung für Einrichtungsgegenstände, Schmuck und Kleidung mit Geschichte war sicher nicht unschuldig daran, dass ich Historikerin geworden war. Ich konnte mir stundenlang den Kopf darüber zerbrechen, woher eine alte Öllampe kam. Durch wie viele Hände sie gegangen war. Wem sie in einer dunklen, gewittrigen Nacht Licht gespendet hatte.
Daher war ich voller Stöberwut, als wir am folgenden Tag nach einem ausgiebigen Frühstück im Hotel vor dem Marktgelände parkten, das Mia im Internet ausgekundschaftet hatte. Die Sonne strahlte vom Himmel, und ein laues Mailüftchen bewegte den Stoff meines geblümten Kleides. Wohlig seufzend setzte ich eine Sonnenbrille auf und strich mir die Haare aus der Stirn.
Die Marktstände waren unter freiem Himmel aufgebaut. Es gab alles zu kaufen, was das Herz begehrte: Geschirr mit winzigen, filigranen Mustern, vergoldetes Besteck, Uhren, die früher vermutlich einen Kaminsims geziert hatten, Spitzendeckchen, Wandbehänge, Lampen mit Schirm, Lampen ohne Schirm.
Schon beim zweiten Stand verliebte ich mich in zwei Gartenlaternen im orientalischen Stil. Ich kaufte sie einem über das ganze Gesicht strahlenden Marokkaner ab, der mir erzählte, wie sein Cousin sie in der Nähe von Marrakesch in mühevoller Handarbeit herstellte. Da ich guter Stimmung war, beschloss ich, ihm zu glauben.
Mia zog es zu einem Eisstand, wo wir uns jeweils drei große Kugeln gönnten. Ich griff zu meinen Lieblingssorten: Joghurt, Zitrone und Stracciatella. Mia probierte etwas Neues: Pitahaja-Granatapfel, Pistazie und Butterkaramell. Zweifelnd bestaunte ich die wilde Mischung, die sie mir zum Probieren hinhielt.
„Lecker. Aber nach einer Kugel kann man dich vermutlich rollen.“
Mia lachte. „Solang ich später nicht aus dem Bikini kugele, ist alles paletti. Sieh mal da.“
Grinsend schleckte ich an meinem Zitroneneis und folgte ihr zu einem Stand, hinter dem eine faltige alte Dame auf einem Klappstuhl döste. Sie schnarchte so laut, dass es Tote hätte aufwecken können.
Mia warf mir einen amüsierten Blick zu und flüsterte: „Ich hoffe, die Arme ist heute nicht schon bestohlen worden. Gemerkt hätte sie es vermutlich nicht.“
Mit zustimmendem Nicken betrachtete ich einen Giftring, dessen Kappe mit einem hellgrünen Stein verziert war. So nützlich, schoss es mir durch den Kopf. Aber leider war Mord eine Straftat. Und ich war nicht der Meinung, dass Christian unter die Erde zu bringen eine lebenslange Haftstrafe wert wäre.
Mia tippte ein gläsernes Windspiel an, das einen Klang erzeugte, wie ich ihn nie zuvor gehört hatte. Sphärisch traf es am ehesten. Wie gebannt streckte ich meine Hand aus und berührte das Glas. Ich könnte es vor mein Wohnzimmerfenster hängen, überlegte ich. Dort war es den ganzen Tag hell, und wenn die Sonnenstrahlen hereinfielen …
„Naaa, nimm nicht das!“
Die Stimme quäkte mich so unvermittelt von der Seite an, dass ich zusammenschrak. Es war die alte Dame, die uns von ihrem Klappstuhl aus aufmerksam musterte. Sie hatte riesige, leicht vorstehende Augen.
Ihr kleiner, krummer Körper steckte in einem Kaftan mit Rautenmuster. Der Stoff fiel unförmig an ihr herab, als sie aufstand und mich zu sich heranwinkte. Kurz darauf verschwand sie bis zur Hüfte in einer der Kisten hinter dem Verkaufstresen.
Mia und ich tauschten einen verdatterten Blick. „Es muss doch … hatte ich doch … Wo ist dummes Ding?“
Sie hatte einen starken Akzent. Vermutlich osteuropäisch, sicher war ich mir jedoch nicht. Ihr weißes, dünnes Haar war zu einem Dutt gebunden, der lustig hinter dem Tresen wippte.
„Aaaah. Da. Das ist, was du brauchst!
“Verwundert betrachtete ich die Kette, die von ihren arthritisgeplagten Fingern herunterbaumelte. Ich war mir zwar sicher, dass ich sie nicht brauchte, aber schön war sie trotzdem. Der Anhänger bestand in der Mitte aus einem dunklen Stein. Die silberne Fassung enthielt zarte Muster, Blumenranken und Sterne. Vorsichtig nahm ich der alten Dame die Kette aus der Hand und drehte den Anhänger um. Auf der Rückseite war eine Inschrift eingraviert, die sich mit dem bloßen Auge kaum entziffern ließ.
„Können Sie lesen, was da steht?“
„Lesen?“, echote die Verkäuferin schrill und schnalzte mit der Zunge. „Ist zu klein zum Lesen. Aber ich kenne Worte.“ Sie tippte sich an die Schläfe, wie um zu sagen: Alles hier gespeichert.
Ich schmunzelte. „Und was steht da?“
„Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo.” Ihre Stimme verfiel in einen Singsang, der es mir zuerst schwer machte zu erkennen, dass sie Vergils Äneis zitiert hatte.
„Das ist Latein.“
„Was heißt es denn?“, fragte Mia, die das Glück hatte, nie den Stowasser in der Hand gehalten zu haben.
„Wenn ich die himmlischen Wesen nicht bewege, rufe ich Acheron zu Hilfe“, übersetzte ich wörtlich. Mia hob eine Augenbraue. „Und jetzt noch mal für Nicht-Historikerinnen.“
„Wenn ich Himmel nicht beugen kann, werde ich Hölle in Bewegung setzen“, entgegnete die Alte. „Frei übersetzt. Acheron ist eigentlich nur einer der Flüsse der griechischen Unterwelt. Und superos heißt nicht Himmel, sondern …“ Ich brach ab, da Mia mit voller Absicht herzhaft gähnte.
„Okay, vergiss es.“ „Ich kenne den Spruch von Pinterest“, sagte Mia.
Das Lachen der Alten klang nach Reibeisen. „Das ist, was du suchst. Rache, eh? An untreuem Mistkerl, der hat geheiratet andere Frau?
“Mia verschluckte sich an ihrem Eis und hustete so heftig, dass es ihr fast aus der Hand gefallen wäre. „Wie bitte?“, hauchte ich. „Woher wissen Sie das?
“Ich hatte mit niemandem darüber gesprochen, abgesehen von Mia. Nicht einmal Becks kannte die ganze traurige Geschichte über Christians Doppelleben und meine grenzenlose Naivität. Meine Wangen brannten vor Scham, und mein Herz zog sich wie im Todeskampf zusammen.
Die Alte sah ein wenig ertappt aus. Doch sie überspielte es mit einem weiteren Lachen und winkte ab. „Ich sehe einfach. Männer sind alle gleich.“
Wenig überzeugt schaute ich von ihr zu der Kette in meiner Hand. Mit einem Mal war mir, als würde der Stein mich anstarren. „Ich glaube nicht, dass ich sie mir leisten kann“, sagte ich und überlegte fieberhaft, wie ich möglichst höflich das Weite suchen konnte.
„Ist nur dreiundzwanzig fünfzig“, empörte sie sich, ehe sie die Augen rollte und theatralisch seufzte. „Gut, gut, mache ich zwanzig Euro.“
„Ich brauche wirklich keine …“
„Fünfzehn. Letzte Wort. Ist Erbstück!“
Ich gab auf. Geschlagen drückte ich Mia mein Eis in die Hand und kramte das Portemonnaie hervor. „Fünfzehn Euro. Bitte sehr.“
Die Alte grapschte nach dem Geld und strich beinahe liebevoll über die Scheine. „Viel Glück, Mädchen.“ Mit einem gequälten Lächeln verabschiedete ich mich, kam aber keine drei Schritte weit, bevor sie mir hinterher krähte: „Amulett nicht ablegen, wenn einmal getragen. Bringt Unglück!“
„Werd’s mir merken.“ Mehr Pech konnte ich dieser Tage wirklich nicht gebrauchen. Ich steckte die Kette ein und griff nach meinem Eis, das Mia mir hinhielt.
„Das war seltsam. Glaubst du, sie ist Hellseherin oder sowas?“
„Keine Ahnung. Vielleicht rät sie auch nur gut. Auf jeden Fall ist sie ein Verkaufstalent, denn sie hat mir etwas angedreht, das ich weder wollte, noch brauchte.“
Als wir ein Pärchen passierten, das sich fast schon ekelhaft verliebte Blicke zuwarf, fragte Mia unvermittelt: „Willst du wirklich keine Rache?“
Abrupt blieb ich stehen und funkelte sie an. „Himmel, nein. Ich kann nicht ändern, was er getan hat, aber ich kann meine Reaktion kontrollieren. Und ich habe keine Lust darauf, mieses Karma zu sammeln.“
Mia hob die Hände. „Hey, kein Grund auszuflippen. Ich sage nur, ich würde es verstehen.“